Anleitung zu einem populären Neo-Stoizismus

Von stoischer Ruhe und dem Wert des Schweigen-Könnens

 

Unsere Welt ist hektisch geworden. Trotz aller Technisierung und Verwissenschaftlichung der Welt verlangt sie dem Menschen – noch immer – sehr viel ab. Der Mensch war in seinem Erdendasein immer gefordert. Eigentümlich ist dabei, dass dies auch in unserer hohen Zivilisation grundsätzlich nicht anders geworden ist.

Zwar ist der Mensch nicht mehr den Mühen, Plagen und Zufälligkeiten des einfachen archaischen oder barbarischen Daseins ausgesetzt. – Penizillin und andere wissenschaftliche Entdeckungen haben das Leben des Menschen wesentlich erleichtert und eine neue Stufe der Humanität erst möglich gemacht. Dazu zählen auch umfangreiche soziokulturelle Veränderungen wie die Abschaffung des Patriarchats und die Einführung der Demokratie. Gänzlich neu ist auch in unserer demokratischen Gesellschaft, dass Wohlstand, Humanität, gesicherte materielle Lebensbedingungen für alle Menschen angestrebt werden und in den sog. Wohlstandsstaaten auch für viele Menschen möglich sind.

Die Kehrseite davon ist, dass wir – wenn wir die Menschheit global betrachten mit all ihren Krisen einschließlich der Umweltproblematik, der Rohstoffvergeudung usw. – vom ursprünglichen humanen Ziel der Aufklärung eigentlich noch weit entfernt sind. Man glaubte nämlich vor allem mit unserer Wissenschaftskultur  und dem sog. Fortschritt  paradiesische Zustände für alle Menschen schaffen zu können. Vielfach treten neue ökologische, soziale und psychologische Phänomene auf, die vorher nicht erkennbar waren. In manchen Bereichen scheinen die Anforderungen an den Menschen in der Postmoderne nicht zu sinken, sondern zu steigen. Hast, Eile, Burnout, Überforderung sind neben vielen nicht zu leugnenden positiven Qualitäten und Errungenschaften unserer Zivilisation ebenso Bestandteil des Alltags geworden.

Ja, man könnte sagen, typische Krankheiten unserer Zeit sind nicht mehr die Seuchen wie früher, die Belastungen des Körpers durch schwerste körperliche Arbeit, sondern die Überforderung vor allem im psychischen Bereich.

Mehr als ein Drittel der Krankheiten unserer Zivilisation gehe nach Studien allein aus dem stetigen Zwang nach „schneller, besser, mehr“, auch mehr Eile, mehr Hast und weniger Ruhe und Gelassenheit zurück. Das Wesentlichste, was zum Menschsein überhaupt gehört, der Rhythmus von Aktivität, Interesse an der Außenweltbewältigung und der Möglichkeit, auch ruhen zu können, ist empfindlich gestört. Dabei gäbe es ganz einfache Mittel, der zweifellos von unserer Zivilisation geforderten Hast, Eile, zuweilen auch Überforderung entgegenzuwirken. Die Besinnung auf das eigene Ich, auf die Bedürfnisse des vom Steinzeitdasein angelegten Menschseins, auch in der eigenen Kleingruppe, in der man lebt, etwa die Familie. Zur Ruhe finden können, und auch diese genießen können, und nicht nur die kleinen und großen Erfolge unserer hektischen Aktivität. Langsam atmen können und lernen, Pausen zu machen und auch Tage von herabgesetzter Aktivität leben, das forderte schon der  Steinzeitmensch für sich.

Auch in den alten orientalischen Hochkulturen und im Alten Testament war es gebräuchlich, dass man an einem Tag in der Woche ruhen sollte. Die Hochschätzung der Mäßigung und Ruhe ist im Übrigen in vielen Kulturen der Erde, insbesondere auch in nieder entwickelten, weit verbreitet. Dies vor allem deshalb, weil sie sich für die Qualität von Gesellschaften und Kulturen auf lange Sicht bewährt hatte.

Wir alle sind nur Menschen und im Leben mit unvorhergesehenen Ereignissen konfrontiert. Mit Konflikten, Hast, Eile, Zwang zu schnellen Entscheidungen und ständig neuen Aufgabenstellungen. Zuweilen sind wir dabei auch mit mitmenschlichen Konflikten konfrontiert, ja sie gedeihen in diesem Milieu der Unbedachtsamkeit, der Hast und Eile besonders schnell. Gerade hier gibt es eine Zauberformel, die in allen Kulturen der Welt wirkte, die für jeden Menschen wirkt, die in jeder Kleingruppe wirkt:

Bei Hast, Streit, Ärger, Stress zumindest versuchen, Ruhe zu bewahren – Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe! Und dies auch in unserem Sprachgebrauch. Nicht alles gleich hinausschreien, besonders wenn es bereits alte Konflikte und sprachliche Verletzungen gibt, sondern auch hier versuchen, sich zurückzunehmen, ruhig zu atmen, und so einen Konflikt zum Eindämmen bringen. Besonnenheit statt Unbedachtheit, Herr des eigenen Ichs sein, und nicht ein loses Herbstblatt im Wind.

Leider wird durch den immer länger andauernden Sozialisationsprozess in unserer Wissenschaftskultur – in Folge des progressiven technologischen Fortschritts – auf diesen Aspekt an unseren Schulen, Colleges und Universitäten immer weniger Wert gelegt.

Schon als Jugendlicher fiel mir auf, dass Menschen, wenn sie in Erregung sind, gänzlich anders agieren und reagieren, als in einem entspannten, gelassenen Zustand, und zwar bei gleichen Außenweltbedingungen. Die eigentlichen menschlichen Teile des Gehirns werden bei großer Erregung ausgeschaltet und man agiert und reagiert auf der Stufe des Kleinhirns von Reptilien. Nicht nur technischer Fortschritt, das Wissen um modernste Maschinen und Geräte z.B. in der Landwirtschaft, das Wissen, welche Temperatur die Mondoberfläche oder die Sonne hat, bringt uns eventuell weiter, stärkt unsere Lebensqualität und Lebenstüchtigkeit in Beruf und Alltag, sondern vor allem auch die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, sein eigenes Ich zu beherrschen, seine Innenwelt zu beherrschen. Die bloße  unreflektierte Außenweltbeherrschung führte uns – das ist weithin sichtbar – zu den großen Krisen unserer Zivilisation.

In der Aufklärungsphilosophie und den sich daraus entwickelnden Lebenshilfeschulen der griechischen und römischen Antike erkannte man, dass ein bloß formales Wissen den Menschen  in seiner Lebensbewältigung nicht weiterbringt. Nicht nur versuchen, die Außenwelt zu beherrschen, sondern auch die Innenwelt zu beherrschen. Dieses Motiv ist im Übrigen auch in vielen Religionen enthalten, weil es sich ebenfalls soziokulturell auf lange Sicht bewährt hat. Die soziokulturelle Bewährung und nicht eine willkürliche Bewertung von wahr oder falsch sollte nämlich letztendlich der Maßstab unseres Verhaltens sein.

Sollte nicht die Bildung unserer Persönlichkeit zum Vorrangigsten zählen? Nicht nur unsere eigene Lebensqualität, sondern vor allem die Gemeinschaft würde davon profitieren.

Wir alle sind also nur Menschen. Leider oder Gott sei Dank. Daher sollten wir vor allem das Menschliche in uns beachten und kultivieren.

In den unvermeidlichen Unbilden des Alltags, in die buchstäblich jeder Mensch zuweilen geworfen wird, nicht einmal ein Kaiser, König, Millionär oder Nobelpreisträger ist davon ausgenommen, entdeckte ich im Schulalter in der Bibliothek meines Vaters ein Büchlein vom römischen Kaiser und Stoiker Marc Aurel. Dieser fasste mit knappen Worten in seinen „Selbstbetrachtungen“, die gar nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht waren, sondern nur für seine eigene Lebensfindung, das zusammen, was schon viele Menschen, viele Denker vor ihm gedacht haben, und die mich so tief berührten, dass sie noch heute eines der wichtigsten Bücher in meiner Bibliothek sind. Ich habe in der Tat, im Besonderen auch im Zusammenhang mit meinen Studien an  Universitäten, viele hunderte, ja vielleicht sogar tausende wissenserweiternde Bücher und Aufsätze in die Hand genommen. Aber nur in ganz wenigen habe ich oft in wenigen Zeilen so viel Weisheit, Humanität und Lebensnähe gefunden wie hier in den Grundzügen der späten römischen Stoa.

Dazu etwas Biografisches: Mein Vater war Bauer und Beamter (Polizist), schätzte Wissen und Bildung sehr hoch, da er sich selbst damit aus ärmlichsten Verhältnissen befreite und empor arbeitete. Er war aber auch Uniformträger und Choleriker. Ich kam als sensibler und ebenfalls lesehungriger Jugendlicher mit seiner zuweilen forschen, cholerischen Art manchmal schwer zurecht, wie auch mit der unbeherrschten Art anderer Mitmenschen. Dabei fand ich unerwartet Hilfe in der Lektüre der Stoa, im Besonderen von Marc Aurel. Das war zugleich auch mein Weg zur Philosophie. Für seine Bescheidenheit und umsichtige Art in allen Lebensbereichen bin ich meinem Vater heute noch dankbar.

Der Stoizismus der griechischen und römischen Kultur war verbreitet und wirkt auch im Sprachgebrauch bis in unsere Zivilisation herein. Die Fähigkeit eines Politikers oder sonstigen Verantwortungsträgers zu „stoischer Ruhe“ und Gelassenheit werden noch immer als hohe Werte anerkannt. Darum sollten wir in unserer Reifung auch ganz bewusst nach diesen Werten streben und nicht nur nach technokratischem Wissen.

In vielen sind natürlich die Aufzeichnungen und auch Problemstellungen eines Menschen wie Marc Aurel, der vor beinahe 2000 Jahre lebte, für uns nicht mehr zeitgemäß. Wir sind selbst aufgefordert, für uns ein Maß der Mitte zu finden, eine Fähigkeit, vielleicht auch „heitere Gelassenheit“, Ruhephasen, ruhiges Atmen und Disziplin einfließen zu lassen in unser Leben und nicht nur Erfolg, Geld, Karriere und materiellen Konsum als oberste Werte anzuerkennen.

Wie viele Gewalttaten, wie viele Ehescheidungen, wie viele unglückliche Erwachsene und Kinder könnten vermieden werden, wenn der Mensch lernen würde, in entscheidenden richtigen Momenten, wo der Sprachgebrauch uns nicht mehr weiterbringt, sondern nur noch in größere Verirrungen führt, zu schweigen, still zu sein, innezuhalten, zu ruhen? Ein Holzscheit brennt nicht. Es muss und kann im Leben auch nicht immer alles bis in den letzten Winkel rational ausgelotet und ausdiskutiert werden. Manches, ja eigentlich sehr vieles im Leben erledigt sich auch von selbst durch die Kraft der Ruhe, des Sichzeitnehmens, des auf die Zeit Vertrauens. Auch auf diese Kraft vertraute letztendlich der antike Stoiker und Philosophen genauso wie der Taoist im fernen hochkulturellen China oder der Weise aller Kulturen der Erde.

Anmerkung:
Hervorragende zeitgemäße Lebenshilfe hat schon vor rund hundert Jahren der Amerikaner Dale Carnegie in seinen legendären Bestsellern veröffentlicht und dargelegt. Viele seiner Hauptaussagen sind heute noch hochaktuell: Dass wir etwa Mitmenschen nicht unnötig kritisieren und verletzen sollten, dass wir ihnen auch Wertschätzung, Lob und Anerkennung zuwenden sollten, dass wir uns keine unnötigen Sorgen um die Zukunft machen sollten, vor allem dass wir die Wirklichkeit so annehmen sollten, wie sie wirklich ist, und nicht etwa beschönigen, denn nur dadurch könnten wir nämlich wirksame Gegenstrategien entwickeln. In manchem scheinen ihm die „Selbstbetrachtungen“ des ungewöhnlichen Menschen Marcus Aurelius Antonius als Vorbild gedient zu haben.

Der Stoiker ist nicht bloß passiv und asketisch. Schon Marc Aurel schätzt bei seinen Mitmenschen auch Heiterkeit in unserem Verständnis als „heitere Gelassenheit“ und selbstsichere Entschlossenheit im Handeln.

Die Gedanken der Stoa entsprechen einer der bedeutendsten kulturellen Erfahrungen und Leistungen der Menschheit: die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung im Dienste der Gemeinschaft. In einer ebenfalls vom Stoizismus geforderten  notwendigen Rückkehr zu einer neuen Einfachheit können auch die negativen Auswirkungen des bisherigen „Anthropozäns“ auf unsere bereits überbeanspruchte Biosphäre gemildert werden.

 

Dr. Johannes Hofer im Mai 2021